DKR – „Niedrigschwellige Substitution kann Menschen dauerhaft ins Hilfesystem holen!“

Drogenkonsumräume (DKR) können helfen, Menschenleben zu retten. Das zeigen die Erfahrungen u. a. aus Berlin, Frankfurt und dem Ruhrgebiet. In Bayern hingegen sperrt sich die Staatsregierung seit Jahren gegen DKR. Das soll sich in Nürnberg ändern. Dort plant der Verein mudra - Alternative Jugend- und Drogenhilfe Nürnberg e. V. ( mudra-online.de ) gemeinsam mit dem Klinikum Nürnberg eine niedrigschwellige Substitution in Kombination mit geschütztem Konsum. Norbert Wittmann ist Teil des geschäftsführenden Vorstands von mudra. Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) fragte ihn nach dem Modellprojekt.

Wie hat sich die Mortalität unter opioidabhängigen Menschen in Nürnberg in den vergangenen Jahren entwickelt?

Es ist traurig, dass Nürnberg bei der Zahl der Drogentoten pro 100.000 Einwohner bundesweit immer unter den Städten der Top 10 liegt. Die Zahl ist in den vergangenen zehn Jahren leicht gestiegen. Die meisten sterben an Opiaten, in erster Linie Heroin. Grund für diese Entwicklung sind ein paar Besonderheiten. Nürnberg bildet mit Erlangen und Fürth eine große Städteregion. Schon seit dem Mittelalter ist die Stadt ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, an dem sich bis heute Straßen, Bahnlinien und Schifffahrtswege kreuzen. Durch die Nähe zu Tschechien wird viel Methamphetamin gehandelt. Zudem beobachten wir, dass der Drogentod in Nürnberg zunehmend in den öffentlichen Raum gelangt. Wegen der gestiegenen Wohnungslosigkeit ist der Konsum generell sichtbarer geworden.

Was haben Sie vor, um den Trend umzukehren?

Gemeinsam mit der Kommunalpolitik haben wir Spritzenautomaten aufgestellt, was in bayerischen Städten nicht selbstverständlich ist. Das Fehlen eines Drogenkonsumraums frustriert uns seit Jahrzehnten. Nun haben wir gemeinsam mit den Partnern der kommunalen Drogenhilfe und dem Klinikum Nürnberg ein Konzept zur niedrigschwelligen Substitution ohne Vorgaben entwickelt. Dieses Handlungskonzept haben wir juristisch begutachten lassen, es bewegt sich im Rahmen aller relevanten Gesetzesvorgaben und Richtlinien. Die Bayerische Landesärztekammer hat die fachliche Qualität bestätigt. Wir wollen das Projekt zwei Jahre lang wissenschaftlich begleiten lassen, um im Idealfall eine Blaupause für andere Städte und Regionen zu liefern.

Die Substitution soll laut Konzept niedrigschwellig sein. Was machen Sie anders als Substitutionspraxen?

Der größte Unterschied ist der Zugang zur Substitution. Sie ist von unserer Seite nahezu bedingungslos. Natürlich müssen die Menschen, die Opiate konsumieren, erst einmal den Nachweis darüber erbringen. Doch müssen sie nicht täglich kommen, sondern können das Angebot punktuell, episodisch, wiederkehrend oder auf die Dauer von maximal drei Monaten nutzen. Wir machen die Türen auf, die Klientinnen und Klienten können im Rahmen unserer Öffnungszeiten frei entscheiden, wann sie kommen. Wir möchten verhindern, dass die Substitution an Vorgaben und hürdenreichen Zugängen scheitert und davon überzeugen, dass sie ein gangbarer Weg ist. Mitgabe, Rezepte und Take-Home gibt es nicht, nur die Sichtvergabe.

Wo liegen die Unterschiede im Detail?

Wir gestalten die Therapieplanung sehr offen und akzeptieren beispielsweise auch als Grund für die Substitution, dass es an Geld für den Drogenkauf mangelt. Wir genügen den juristischen Vorgaben, indem wir die Ziele besprechen, dabei aber sehr auf die Bedürfnisse der Klienten und ihre Partizipation achten. Beigebrauchskontrollen wollen wir als freiwillig anbieten und von ihrem Mehrwert für die persönliche Sicherheit überzeugen. Allerdings behalten wir uns Beigebrauchskontrollen bei Klienten in kritischem Zustand vor. Das ist gerade in der niedrigschwelligen Substitution ein wichtiges Thema, weil unsere Ärztinnen und Ärzte angreifbar sind. Anders als bei der klassischen Substitution haben wir ja nicht immer den täglichen Verlauf im Blick. Deshalb arbeiten wir aktiv mit dem Thema, wollen sanktionsfrei und offen mit den Klienten darüber sprechen und daran arbeiten, den Beigebrauch zu stabilisieren und Risiken zu minimieren.

Welche Erfahrungen aus anderen Einrichtungen der Drogenhilfe haben Sie für Ihr Konzept genutzt?

Vor über zehn Jahren habe ich in den USA ein Konzept der niedrigschwelligen Substitution in Brennpunkten kennengelernt, das mich fasziniert hat. Dort wurde zuallererst ein Ersatzstoff zur Verfügung gestellt – ohne Bedingungen. Ziel war, die Leute von der Straße ins System zu holen. In Hamburg haben wir uns das Drob Inn angesehen, wo während der Pandemie eine niedrigschwellige Substitution eingerichtet wurde. Dort hat uns die direkte Anbindung an das Kontaktcafé und den Drogenkonsumraum sehr inspiriert, weil wir Synergien erkennen konnten. (Anm. d. Red.: Details hierzu im subletter 1/2021 unter subletter.de)

Stichwort nachhaltige Begleitung. Wer soll Ihre Klienten übernehmen, wenn sie über die niedrigschwellige Substitution hinaus sind?

Wir wollen kein Angebot in Konkurrenz zur Substitution schaffen, sondern das bestehende Substitutionsnetzwerk unterstützen, indem wir Klienten für den dauerhaften Zugang gewinnen. Umgekehrt müssen Substitutionspraxen schwer führbare und aufmerksamkeitsintensive Patienten nicht mehr auf die Straße setzen, sondern können sie an unsere niedrigschwellige Substitution verweisen. Es ist immer ein starker Konflikt, die Therapie eines Patienten aus ärztlicher Sicht beenden zu müssen. Diesen Konflikt nicht mehr zu haben, ist für Niedergelassene ein großer Zugewinn.

Weiterführender Hinweis

  • Niedrigschwellige Substitutionsambulanz überzeugt (subletter 1/2021)